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Das 14. Jahrhundert gilt noch immer als eine Zeit des Niedergangs. Frankreich und England versanken im Grauen ihres Hundertjährigen Krieges. Im Heiligen Römischen Reich verlor das Königtum seine Macht. Im Osten drängten oder herrschten Türken und Mongolen. Und über alle brach 1347/48 mit unvorstellbarer Wucht die Pest herein, die den Kontinent in weiten Teilen entvölkerte.
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Aber das war eine sehr europäische Sicht. Die aktuelle Kritik am Eurozentrismus hat auch für einen Perspektivenwechsel gesorgt, indem zunehmend die Geschichte anderer Weltgegenden in den Blick genommen wird. So sind eine Reihe von Globalgeschichten entstanden, die die europäischen Umbrüche des Spätmittelalters mit Entwicklungen in Asien, Afrika und Amerika zu verknüpfen suchen, womit allerdings nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch wie formal Neuland beschritten werden muss.
„Eine Familiengeschichte der Menschheit“
Einen umfassenden wie außerordentlich lesbaren und kurzweiligen Ansatz hat der britische Historiker Simon Sebag Montefiore in seinem neuen Buch „Die Welt“ vorgelegt, das nicht mehr und nicht weniger als „Eine Familiengeschichte der Menschheit“ (Klett-Cotta; s. u.) verspricht. Allein das Inhaltsverzeichnis macht Staunen, zählt es auf 15 Seiten doch 23 Akte auf, von den „Pharaonen und Akkadern“ des Altertums bis zu einem Kaiser, einem Zaren und einem Schauspieler: „Xi, Putin und Selenskyj“.
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Er habe ein „historisches Netz über die Welt geworfen“, erklärt Montefiore, der mit Büchern über Stalin, die Romanows und Jerusalem Weltbestseller geschrieben hat, seine Methode, „in die ich Parallelgeschichten von Familien aller Kontinente und aller Epochen verwoben habe“. Denn mit der Familie beginnt alles – und sie eröffnet einen „eher intimen Blick auf die Menschheit“.
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Damit gewinnt Montefiore den Schlüssel, dem er nicht zuletzt seinen Erfolg verdankt: die dunklen Aspekte der Geschichte wie Krieg, Verbrechen, Unterdrückung treten ebenso hervor wie das Außerordentliche. Sex, Leidenschaft und Skandale von Individuen, die die Geschichte spiegeln und prägen, rauschen vorbei und zeigen, dass auch Kaiser und Diktatoren nur Menschen aus Fleisch und Blut waren, wobei der Autor sich allerdings nicht scheut, bei der Ausdeutung seiner Quellen bis in die Kolportage zu gehen.
Zum Beispiel das 14. Jahrhundert. Während Europa mit dem Schwarzen Tod rang, lässt Montefiore in Asien zwei Machthaber auftreten, deren Wirken hierzulande auch von Kritikern des Eurozentrismus gern übersehen wird. Der eine heißt Timur Lenk (1336–1405), der andere Zhu Yuanzhang (1328–1398). Beide betrieben monströse Machtspiele, die jene seiner okzidentalen Kollegen weit in den Schatten stellten.
Timur war das Oberhaupt eines turko-mongolischen Stammes aus der Gegend von Samarkand und wurde wegen einer frühen Verletzung „der Lahme“ genannt. Das hinderte ihn nicht, seinem großen Vorbild Dschingis Khan nachzueifern, dem Begründer des Mongolischen Weltreichs. Indem er eine Frau aus dessen Clan heiratete, konnte er als „kaiserlicher Schwiegersohn“ auftreten, der diese Legitimation auch dadurch zu repräsentieren suchte, indem er ähnlich hohe Pyramiden aus Totenschädeln auftürmte.
Da seine Macht auf der Loyalität von mongolischen, türkischen, persischen und usbekischen Kriegern beruhte, führte Timur permanent Krieg, um die Beutegier seiner Gefolgsleute zu befriedigen. Die Eliten zwischen der Türkei und Indien wurden hingemetzelt, einfache Untertanen – wenn sie das Morden denn überlebt hatten – in die Sklaverei verkauft. Man schätzt, dass Timur 17 Millionen Menschen getötet haben könnte, ein Zwanzigstel der damaligen Weltbevölkerung.
Nur Künstler und Handwerker wurden in Gnaden aufgenommen und nach Samarkand geschickt, um die Hauptstadt zur schönsten der Welt zu machen. Denn Timur„war ein Kind der wilden Steppe und der verfeinerten persischen Stadtkultur; er wütete als Schlächter und präsentierte sich als Kunstkenner“, schreibt Montefiore und zitiert Verse, die der Dichter Hafi an Timurs Hof vortrug. Die Sultane von Delhi und der Osmanen hatten weniger Glück, sie fielen mit ihren Heeren Timurs Feldherrengenie zum Opfer.
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Ungezügelte Gewalttätigkeit war auch die hervorstechende Charaktereigenschaft eines Mannes namens Zhu Yuanzhang, der sich Mitte des 13. Jahrhunderts in China vom Bettelmönch zum General hochgearbeitet hatte. Das Land wurde damals noch von der mongolischen Yuan-Dynastie beherrscht, deren Regime aber durch diverse Aufstände erschüttert wurde. Nachdem Zhu seine chinesischen Konkurrenten ausgeschaltet hatte, gelang ihm 1368 die Eroberung von Peking. Anschließend erklärte er sich zu Hongwu, dem „Gewaltigen Militärischen Kaiser“, und begründete die Ming-Dynastie mit der Hauptstadt Nanjing.
Umgehend setzte er ein Reformprogramm in Gang, dessen Kern die Restauration des Beamtenstandes war. Die konfuzianischen Beamtenprüfungen wurden wieder eingeführt. Um sein Regime zu sichern, entstand mit der „Garde der bestickten Uniformen“ eine Geheimpolizei, die für die Kollektivstrafe der „Neunfachen Familienvernichtung“ zuständig war – alle männlichen Verwandten der Delinquenten bis zum neunten Grad der Verwandtschaft wurden getötet, Frauen wurden versklavt. Mindere Gefangene wie der Muslim Zheng He, der später als Admiral der chinesischen „Schatzschiffe“ Karriere machen sollte, kamen mit der Kastration davon.
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„Führungspersönlichkeiten stiegen zusammen mit ihren Sippen auf und rissen sie mit sich ins Verderben“, schreibt Montefiore und erklärt den „Tod durch tausend Schnitte“, den die Hauptangeklagten erlitten: Dem noch lebenden Opfer wurden nacheinander einzelne Gliedmaßen abgetrennt, dann wurde es in vier Streifen geschnitten, wobei die Gabe von schmerzlinderndem Opium als Gnadenerweis galt. Ein Minister verlor auf diese Weise mit 30.000 Angehörigen Amt und Leben.
Selbst Hongwus Söhne, die hohe Posten bekleideten, lebten in ständiger Angst vor der Paranoia des Kaisers, der desillusioniert bekannte: „Das Reich war befriedet, die Menschen waren trotzdem bösartig und die Beamten korrupt. Auch wenn am Morgen zehn hingerichtet wurden, trieben am Abend schon wieder hundert andere Missetäter ihr Unwesen.“
Zum erwarteten Zusammenstoß von Timur und Hongwu ist es nicht gekommen. Dieser starb 1398 und wurde mit 38 Konkubinen, die man zu seinen Ehren geopfert hatte, begraben. Jener eröffnete 1405 gegen Hongwus Nachfolger Yongle den Krieg, kam aber nur bis Kasachstan, wo er nach einem alkoholreichen Gelage sein Leben aushauchte. Sein Reich löste sich bald in den Kämpfen seiner Nachfolger auf, während die Ming bis 1644 herrschten und als „nationale Dynastie“ bis heute in Ehren gehalten werden.
Montefiores Akteure sind wahrlich aus Fleisch und Blut. Ob alle Details akademischer Quellenkritik standhalten, sei dahingestellt. Praller lässt sich die Globalgeschichte der Menschheit kaum erzählen. Und schon damit gelingt ihm eine bemerkenswerte Beweisführung: Das modische Credo, der Westen sei der Hort allen Bösen und der Osten der Ursprung des Schönen und Guten, wird als naive Bildungsfreiheit entlarvt.
Simon Sebag Montefiore: „Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit“. (A. d. Engl. v. Jens Hagestedt, Karin Laue, Hans-Peter Remmler, Thomas Stauder, Andreas Thomsen, Maria Zettner. Klett-Cotta, Stuttgart. 1534 S., 49 Euro)